Samstag, 22. Oktober 2016:
Nie vermissen?
Heute war ich am Grab meiner Großeltern. Auf dem Weg zum Parkplatz ging ich einen kleinen Umweg.
Auf einem Grab lag ein Kranz. Die Blumen waren noch in einigermaßen gutem Zustand.
Auf einer Hälfte der Schleife, die den Kranz zierte, stand mit goldenen Buchstaben: „Wir werden dich nie vermissen!“
Auf der anderen Seite waren etliche Vornamen zu lesen – wahrscheinlich Mitglieder einer Gruppe oder Mannschaft, zu der der Verstorbene gehörte.
Ich blickte verwundert auf den ungewöhnlichen Text und las ihn drei Mal:
„Wir werden dich nie vermissen!“
Hatte sich jemand einen Scherz erlaubt? Wenn, wäre es allerdings sehr makaber.
Oder war es ein Fehler der Druckerei und der eigentliche Text sollte lauten: „Wir werden dich nie vergessen“? Oder: „Wir werden dich immer vermissen“?
Oder aber der Text war genau so gemeint, und nur die Auftraggeber wissen, wie er weitergehen musste: „Wir werden dich nie vermissen – denn du wirst immer bei uns sein: In unseren Herzen, in unseren Erinnerungen, bei unseren Treffen, bei unseren Veranstaltungen!“
Meine Fragen begleiteten mich auf dem Heimweg.
Wollte sich die Gruppe mit dieser fragwürdigen Formulierung über den Verlust hinwegtrösten, den der Tod dieses Menschen für sie bedeutet? Indem sie behauptet: Es ist gar kein Verlust, weil er ja nicht weg ist? Jedenfalls nicht für uns.
Unsere Trauer um einen Menschen sucht sich manchmal eigenartige Wege.
Die Liebe mag stärker sein als der Tod, aber sie kann nicht so tun, als ob es ihn nicht gäbe.
Ich denke, die Anerkennung, dass jemand nicht mehr da ist und spürbar vermisst wird, gehört zur Liebe dazu, die über den Tod hinaus Bestand haben möchte.
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